Genau drei Wochen, 21 Tage, soll ich in der Schön-Klinik Harthausen in Bad Aibling bleiben. Zwölf Tage sind schon vorbei neun Tage liegen noch vor mir. Höchste Zeit für einen Halbzeitbericht.
Vor langen Jahren las ich im Taxi den Roman
-> Der Zauberberg
von Thomas Mann. Hans Casturp der Held fährt nach Davos in die Schweiz zu Besuch in ein hochalpines Sanatorium und bleibt dort schließlich sieben Jahre. In meinem Kopf habe ich immer noch das Bild des Sanatoriums in den Bergen zur vorletzten Jahrhundertwende. Auf der Terrasse liegt der lungenkranke Hans, warm in Decken eingeschlagen und blickt täglich stundenlang auf das Alpenpanorama. Großes Thema des Romans ist die Zeit, die scheinbar immer langsamer vergeht. Als Leser verlor ich mich in den hunderten, langatmigen Seiten. Ich glaubte die Sonne über den Felsspitzen, den Schnee an den schattigen Hängen, die zugedeckten Patienten in einer Reihe auf den Liegestühlen zu sehen. Selbst die gebremste Zeit konnte ich spüren.
Erst kürzlich wurde mir der
Zauberberg wieder ins Gedächtnis gerufen. Ein älteres Ehepaar wollte von mir zu dem gleichnamigen
-> Restaurant in München, Neuhausen,
Hedwigstraße gebracht werden. Ich fragte die Beiden wie das Thema
Zauberberg in einem Restaurant aufgegriffen werden könnte. Meine Fahrgäste konnten mir keine Antwort geben. Sie hatten von ihrem Sohn den Restaurantbesuch in Form eines Gutscheines als Weihnachtsgeschenk bekommen, den sie jetzt einlösen wollten.
Selbstverständlich ist mir klar daß eine moderne Rehaklinik nichts mit einem Schweizer Sanatorium vor 110 Jahren zu tun hat. Trotzdem habe ich die Bilder des Mann´schen Romans im Kopf, als ich über das Voralpenland in die Schön-Klinik nach Harthausen/ Bad Aibling gebracht wurde.
Aber hier spüre ich nichts von der endlos fleißenden Zeit. Es gibt ein Programm, daß es einzuhalten gilt.
Wie jeder Patient bekomme ich gleich zu Beginn eine weiße Mappe mit dem ersten Plan. Darauf sind meine Termine während der nächsten Tage eingetragen. Mehrmals täglich soll ich mein Postfach überprüfen. Dort werden die aktuellen Pläne oder kurzfristige Änderungen hinterlegt. Die neuen Pläne, hefte ich in meine Mappe, die immer dicker wird, ein. Diese Mappe ist jetzt schon seit über einer Woche mein ständiger Begleiter.
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Mein Postfach Was gibt es Neues? |
Bis jetzt war meine früheste Anwendung um 8 Uhr, gleich nach dem Frühstück, und meine späteste, ein Gerätetraining abends um 19 Uhr. Die Mappen mit den Plänen werden in weißen Stoffumhängetaschen, die es für 1,20 € in der Klinik zu kaufen gibt, um den Hals getragen. Die Taschen und die Schlüßelbänder sind unser Erkennungszeichen. Jeder Patient benutzt die praktischen Accessoires, weil wir als Krückengänger keine Gegenstände in der Hand tragen können.
Mein Plan beginnt nach der Eingangsuntersuchung, dem EKG und der Blutentnahme mit einer
Einzelkrankengymnastik. Meine erste Anwendung. Noch bin ich fremd. In der mehrmals an- und umgebauten Klinik muß ich erst den Therapieraum finden. Liegend auf einer Pritsche mache ich die ersten kontrollierten Bewegungen. Langsam spreize ich das Bein meiner frisch operierten Hüfte nach außen. Zögernd winkle ich das Knie ab. Im Grunde sind das die gleichen Bewegungen, die ich auch auf dem
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Der Schlingentisch im Keller |
Schlingentisch mache. Nur daß hier der Fuß, der Unter- und Oberschenkel und das Knie in Schlingen hängen die an einer Art Käfig befestigt sind. Dabei spare ich mir die Kraft meine Extremitäten anzuheben. Im schönsten Therapieraum im obersten Stock des Vordergebäudes wird mir
Interferenzstrom verabreicht. Von hier aus habe ich einen Blick auf die bayerischen Berge, nicht so hoch, nicht so nah, aber immerhin eine kleine Referenz an den Zauberberg. Hier werden zwei Elektroden auf den Rücken zwischen die Schulterblätter gepappt. Leicht Stromstöße in verschieden Impulsen durchzucken den Körper. Viel hilft viel dachte ich mir am Anfang und ermunterte den Strommeister den Regler hochzudrehen. Leichter Schwindel war das Ergebnis. In Zukunft bleibt der Regler unten. Erst in dieser Woche habe ich erfahren was der Sinn dieser Behandlung ist; die Muskeln im oberen Schulterbereich, von der Krückengeherei verspannt, soll gelockert werden. Ganz ohne Strom kommt die
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Interferenzstromgerät ohne Strommeister |
Manuelle Lymphdrainage aus. Dabei liege ich entspannt auf dem Rücken und werde massiert. Vielmehr meine Lymphen. Die Masseurin streicht immer in Richtung des Herzen. So wird mein Körper schneller entgiftet. Beim
Funktionstraining müssen wir uns schon bewegen. Ganz sachte nur. Das sind die Übungen mit den bunten großen Bällen und flexiblen Bändern. Alles was mir vorher suspekt war. Liegt hier in dem Therapieraum auf dem Boden. Wir beschäftigen uns damit unter Anleitung einer Therapeutin und veranstalten eine Art Zirkeltraining. Das alles hilft mir bei der
Gehschule. Wären wir in einer Schule, wäre das mein Lieblingsfach. Meine Therapeutin holt mich aus dem Zimmer ab und wir gehen den langen Flur auf und ab. Heute zum ersten Mal ohne die Gehhilfen. Aufmerksam achte ich auf ihre Ratschläge. Hier sehe ich meine größten Erfolge. Schließlich will ich meine Krücken möglichst bald in die Ecke feuern. Im Taxi kann ich sie nicht brauchen. Ruhiger ist es hingegen bei der
Wärmegroßpackung. Ganz tief unten im Keller liegen wir nebeneinander zugedeckt auf schwarzen Wärmekissen. Dabei wird es mir wohlig warm. Immer wieder schläft einer meiner Nachbarn dabei schnarchend ein. Leider ist die Packung schon nach 25 Minuten vorbei. Die
Gerätegesteuerte Krankengymnastik dauert da schon länger. Ich brauche für eine Einheit ca. eine Stunde. Hier sieht es aus wie in einem Fitnessstudio. An den Geräten sind viele Skalen und Verstellmöglichkeiten. Die Einweisung ist viel ausführlicher und individuell zugeschnitten. Hier trainieren wir streng, ein jeder nach seinem Plan. Mit leichten Gewichten und vielen Wiederholungen. Meine Sätze haben 30 Wiederholungen. Militärisch hört sich der Titel
Hilfsmittel - und Gelenkschutzgruppe an. In unserer vierköpfigen "Schutzgruppe" sind wir drei Hüften und ein Knie. Wir sitzen vor einer Wand mit allerlei Gehhilfen, Greifzangen, Tüchern, Anziehhilfen, Rollatoren, ... Sogar ein Bett, eine Badewanne und eine Toilette sind aufgestellt. Hier lernen wir, bis jetzt vier Mal, den Umgang mit all den Hilfsmitteln. Hier habe ich zum Beispiel gelernt, wie ich meine Socken mit einem Handtuch anziehen kann. Natürlich ohne mich zu bücken. Seit meine Fäden gezogen sind, darf ich auch in unser Hallenbad zum
Bewegungsbad Knie/Hüfte. Ich komme mir vor wie beim Schwimmunterricht in der Schule. Wir Patienten stehen bis zur Schulter im Wasser. Eine Therapeutin macht am Beckenrand die Übungen vor und wir turnen unter Wasser mit. Wir gehen von Beckenrand zu Beckenrand. Mal auf Zehenspitzen, mal auf den Fersen, mal seitwärts, mal schnell, mal mit hochgezogenen Knien ... Ich schwimme gern und kann meinen Drang nicht wiederstehen. Bis alle Aufstellung genommen haben, ziehe ich zwei schnelle Bahnen kraulend durch das Wasser. Brustschwimmen ist für die nächsten Monate tabu. Die Froschbewegung, die man dabei mit den Beinen macht, birgt eine große Gefahr, daß die Hüfte ausgekugelt wird. Bei der Wende, bei der ich bisher immer einen oder zwei Brustzüge unter Wasser machte, bekomme ich das auch zu spüren.
Das sind die Anwendungen, die ich bis jetzt schon hier hatte. Und dabei bin ich erst zwölf Tage hier. Jeden Tag habe ich fünf davon. Wann und in welcher Reihenfolge kann ich in meinem Plan nachlesen. Ihr seht also; Knödelwasser mit Sanatorium in der Jahrhundertwende.